Forschungsprojekte von Prof. Dr. Claudia Wiesemann

Institut für Ethik und Geschichte der Medizin

Forschungsthemen

Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens

Vorstellungen guten Lebens stellen einen gedanklichen Fluchtpunkt einer ganzen Reihe von Forschungsfragen in Medizin, Ethik sowie den Sozial- und Kulturwissenschaften dar. Eine Forschungsgruppe unter der Leitung von Claudia Wiesemann widmet sich diesen oft wenig reflektierten Hintergrundannahmen systematisch und interdisziplinär. Dazu untersucht sie, welche Beziehungen zwischen medi­zinischen Konzepten, Techno­lo­gien und Prak­tiken einerseits und lebenspraktischen Orientierungen sowie normativen Vorstellun­gen von den zeitli­chen Struk­tu­ren des menschlichen Lebens andererseits bestehen, wie der Zusammenhang von Medizin und Lebenszeit in wissenschaftlichen, lebens­weltlichen und (populär-)kulturellen Narrativen dar­gestellt und verhandelt wird und wie die dabei berührten zeitlichen Aspekte guten Lebens ethisch zu verstehen und zu bewerten sind. Untersucht werden zum einen interdisziplinär Zeitstrukturen guten Lebens aus der Perspektive sozial und kulturell unterschiedlich situierter Akteure. Darüber hinaus werden die bisher in der Medizin fachlich jeweils gesondert behandelten Lebensphasen und Altersstufen diachron und synoptisch erfasst. Dies erfolgt auf der Basis einer methodisch innovativen Synthese philosophisch-ethischer, sozialempirischer und hermeneutischer Begriffe und Konzepte guten Lebens in der Zeit.

Ethik menschlicher Fortpflanzung, von Elternschaft und Familie

Kinder zu haben und eine Familie zu gründen gehört für viele Menschen zu den Wesensmerkmalen eines guten Lebens. Bleibt der Kinderwunsch unerfüllt, kann dies zu einer schweren Belastung für die betroffenen Personen werden. Für viele Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch bietet die Fortpflanzungsmedizin Hilfe an. Nicht wenige Verfahren, insbesondere jene, die einen Beitrag Dritter zur Fortpflanzung voraussetzen – sei es die Spende von Keimzellen oder Embryonen, sei es die Bereitschaft, ein Kind für Dritte auszutragen – werfen grundlegende ethische, rechtliche und psychosoziale Fragen auf. Diese betreffen etwa die Reichweite der Fortpflanzungsfreiheit, den moralischen Status von Keimzellen oder Embryonen, das Wohl der aus diesen Verfahren hervorgehenden Kinder, die Gerechtigkeit hinsichtlich des Zugangs zu diesen Verfahren oder die Kommerzialisierung von Fortpflanzung und nicht zuletzt das Verständnis von Elternschaft und Familie. Auch die Rechte von Kindern in der Medizin spielen bei diesen Verfahren eine zentrale Rolle.

  • Wiesemann, C. (2021) Geburt als Appell. Eine Ethik der Beziehung von Eltern und Kind. In Gelingende Geburt. Interdisziplinäre Erkundungen in umstrittenen Terrains, (ed. O. Mitscherlich-Schönherr and R. Anselm), 173-186. de Gruyter: Berlin.
  • Wiesemann, C. (2021) Welcher Menschenwürdebegriff taugt für Kinder? In ZusammenDenken. Festschrift für Ralf Stoecker, (ed. R. Kipke, N. Röttger, J. Wagner and A. K. von Wedelstaedt), 181-203. Springer VS: Wiesbaden.
  • Beier K, Brügge C, Thorn P, Wiesemann C (Eds.) (2020) Assistierte Reproduktion mit Hilfe Dritter. Medizin –  Ethik – Psychologie – Recht Heidelberg, New York, Springer.
  • Wiesemann C (2016): Moral Equality, Bioethics and the Child New York, Springer.
  • Wiesemann C (2018): Which Ethics for the Fetus As a Patient? In: Schmitz D, Clarke A, Dondorp W, eds. The Fetus as a Patient. A Contested Concept and Its Normative Implications. London, New York: Routledge, 28-39.
  • Wiesemann C (2015) Natalität und die Ethik von Elternschaft und Familie. Zeitschrift für Praktische Philosophie 2, 213-36.
  • Wiesemann C. (2006) Von der Verantwortung, ein Kind zu bekommen. Eine Ethik der Elternschaft. C. H. Beck, München.
  • Nationale Akademie der Naturforscher Leopoldina: Fortpflanzungsmedizin in Deutschland - für eine zeitgemäße Gesetzgebung (2019). Halle/S. (Veröffentlichung der Nationalen Akademie der Naturforscher Leopoldina, Union der deutschen Akademien der Wissenschaften) https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2019_Stellungnahme_Fortpflanzungsmedizin_web_01.pdf
  • Deutscher Ethikrat: Embryospende, Embryoadoption und elterliche Verantwortung (2016) https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-embryospende-embryoadoption-und-elterliche-verantwortung.pdf

Forschungsethik, insbesondere der Stammzellforschung

Innovative medizinische Forschung stellt oft eine besondere Herausforderung für die Ethik dar. Die Stammzellforschung ist ein Beispiel für eine solche Zukunftstechnologie, die komplexe ethische Fragen aufwirft. Der rasche Fortschritt der biomedizinischen Forschung lässt eine therapeutische Anwendung in naher Zukunft möglich werden. Unsere Forschung widmet sich der im Zuge der klinischen Implementierung entstehenden ethischen Probleme. Mittels einer vergleichenden Analyse der Debatten in Deutschland und Österreich sowie der Großbritanniens und der USA wurde eruiert, wie eine Ausschöpfung des hohen medizinischen Potentials unter Gewährleistung der notwendigen Sicherheit der Patient*innen ermöglicht werden kann. Unter Einbeziehung relevanter Stakeholder, wissenschaftlicher Gremien sowie der Öffentlichkeit wurden geeignete Instrumente für die klinische Implementierung von hiPS-Zellen entwickelt. Erstellt wurde ein Handlungsleitfadens für alle Beteiligten sowie Grundlage für eine gesetzgeberische Empfehlung.

  • Hansen SL, Heyder C, Wiesemann C (2020) Ethische Analyse der klinischen Forschung mit humanen induzierten pluripotenten Stammzellen. In: Die klinische Anwendung von humanen induzierten pluripotenten Stammzellen. Ein Stakeholder-Sammelband, eds S Gerke, J Taupitz, C Wiesemann, C Kopetzki and H Zimmermann, Heidelberg: Springer, 197-239.
  • Heyder C, Hansen SL, and Wiesemann C. 2020. Ethical Aspects of Translating Research with Human Pluripotent Stem Cell Products into Clinical Practice: A Stakeholder Approach. The New Bioethics 26: 3-16.
  • Hansen SL, Holetzek T, Heyder C, Wiesemann C (2018): Stakeholder-Beteiligung in der klinischen Forschung: eine ethische Analyse. Ethik in der Medizin 30 (4): 289-305.
  • Lenk C, Hoppe N, Beier K, Wiesemann C (Eds.) (2011) Human Tissue Research. A European perspective on the ethical and legal challenges. Oxford, Oxford University Press.
  • Deutscher Ethikrat: Stammzellforschung – Neue Herausforderungen für das Klonverbot und den Umgang mit artifiziell erzeugten Keimzellen? (2014) https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/empfehlung-stammzellforschung.pdf

Autonomie und Vertrauen in der Medizin

Die Selbstbestimmung des Patienten wird in liberalen und individualisierten Gesellschaften zu Recht hochgehalten. Doch die Handlungsfreiheit des Einzelnen in einer hochkomplexen, von wissenschaftlich-technischen Rationalitäten durchstrukturierten Welt wächst nur in dem Maße, wie Personen- und Systemvertrauen ermöglicht wird. Ein Übermaß an Entscheidungsoptionen und hohe Risiken in der Medizin machen auch den prinzipiell Entscheidungsfähigen handlungsunfähig, wenn sie nicht durch Vertrauen stiftende Sozialsysteme balanciert werden. Wenn Autonomie ein Schlüsselbegriff moderner Gesellschaften ist, dann muss dies auch für Vertrauen gelten. Denn Verletzlichkeit und Verunsicherung der Akteure nehmen mit den Handlungsmöglichkeiten der modernen Medizin eher zu als ab. Im Mittelpunkt dieser Forschung stehen deshalb Ansätze, Autonomie stärker relational oder sozial zu fassen. Untersucht wurde, inwiefern interpersonelles Vertrauen bzw. Systemvertrauen und Selbstbestimmungspraktiken in der Medizin zusammenhängen, wie sie generiert oder unterminiert und wie sie gerechtfertigt werden. Ein besonderes Augenmerk galt dabei Organisationen und Institutionen, z. B. dem Krankenhaus, sowie Kollektivakteuren, z. B. der Familie oder Patientengruppen. Welche Rolle spielen sie für die Interpretation und Umsetzung von Vertrauen und Autonomie in der Medizin?

  • Steinfath H, Wiesemann C et al. (Eds.) (2016) Autonomie und Vertrauen. Schlüsselbegriffe der modernen Medizin. Heidelberg, Springer VS.
  • Wiesemann C (2017): On the Interrelationship of Vulnerability and Trust. In: Vulnerability, Autonomy and Applied Ethics, edited by Straehle C, Routledge, New York, 157-170.
  • Beier K, Jordan I, Wiesemann C, Schicktanz S (2016): Understanding Collective Agency in Bioethics.  Medicine, Health Care and Philosophy, 19:411-422.
  • Wiesemann C (2016) Vertrauen als moralische Praxis - Bedeutung für Medizin und Ethik. Autonomie und Vertrauen. Schlüsselbegriffe der modernen Medizin. Ed. Steinfath H, Wiesemann C et al. Heidelberg, pp. 69-100.

Kontakt

LeitungProf. Dr. med. Claudia Wiesemann

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