Entscheidungsfindungsprozesse im Rahmen der Lebendnierenspende – Medizinethische und medizinanthropologische Aspekte

Institut für Ethik und Geschichte der Medizin

Bearbeitet von: Dr. Sabine Wöhlke

Zusammenfassung

Lebendspende spielt in der Transplantationsmedizin eine immer wichtigere Rolle. Beworben wird sie zumeist als unkomplizierter Akt der Liebe und Fürsorgepflicht. Die vorliegende Untersuchung wirft einen präzisen Blick auf das Thema Lebendnierenspende in Deutschland. Die empirische Untersuchung öffnet die „Black Box“ der familiären Entscheidung bei der Lebendnierenspende für die Wissenschaft.

Der Fokus liegt auf der Perspektive der Betroffenen. Angesichts des häufig konstatierten Organmangels ist es wichtig, den Argumenten, Positionen und Unsicherheiten der direkt und indirekt Betroffenen einer Organspende genauer nachzugehen. Als Ergebnis meiner Arbeit zeigt sich, dass der Entscheidungsprozess von der reziproken Beziehung des Spender?Empfänger?Paares beeinflusst wird, da die Niere nach den Regeln der „Gabe“ geschenkt wird. Zudem wird die Entscheidung von der Selbstbestimmung in einer Beziehung, die Rollenzuweisungen und Rollenerwartungen sowie vergeschlechtlichte soziale und moralische Identitäten beinhaltet, massiv beeinflusst. Um ein Organ zu schenken, sind zudem Körperkonzepte wesentlich, um z.B. die Organintegration gewährleisten zu können. 

Es zeigte sich bei den Motiven von Spendern und Empfängern, dass Entscheidungen in der Familie wesentlich von Reziprozität geprägt sind und die gesamte Familie in den Prozess einbezogen ist. Die empirische Auswertung zur Gabe stellt für die medizinethische Diskussion einen wichtigen Beitrag dar, da bei der Lebendspende im familiären Kontext Reziprozitätslogiken aktiviert werden. Zudem zeigen sich starke Ambivalenzen und Unsicherheiten bei Betroffenen, weil der symbolische Wert einer Spende nicht genau festgelegt werden kann. Die Folgen sind subtile Formen von Dankbarkeit und nicht selten Schuldgefühle gegenüber dem Spender.

Bei den Betroffenen bestehen unterschiedliche Vorstellungen vom Körper, diese haben einen Einfluss darauf, wie und ob sie mit der Lebendspende umgehen können. Das fragmentierte, durch biomedizinische Vorstellungen geprägtes Körperkonzept ist zwar am meisten verbreitet, jedoch kann auf Untertypen verwiesen werden, die aufgrund von Vergeschlechtlichungsprozessen besonders wirkmächtig sind. Frauen mit einem reproduktiven Körperverständnis setzen Organspende häufig mit Geburt und biologischer Reproduktion, Männer hingegen mit ökonomischer Arbeitskraft gleich. Es kann gezeigt werden, dass sich auch ein holistisches Körperverständnis sehr wohl praktisch mit der Organspende/-transplantation vereinen lässt.

Nicht zuletzt durch die Etablierung im Transplantationsgesetz wird der Freiwilligkeit der Handlung im Rahmen der Entscheidung ein hoher Stellenwert beigemessen. Doch lässt sich diese nur schwer überprüfen. Spender sowie Empfänger rekurrieren auf ein relationales Autonomiekonzept, insofern eine Entscheidung im Kontext der Familie getroffen wurde. Dieser Familienkontext umfasst auch die jeweiligen Rollen des Einzelnen im Familiengefüge. 

Die Ergebnisse verweisen bei den Motivationen und Handlungsreichweiten auf beachtliche Unterschiede zwischen Spendern und Empfängern, so dass eine Forderung nach Perspektivendifferenz ein wesentliches methodisches Ergebnis darstellt. Die Untersuchung hilft daher, die Belastungen genauer in den Blick zu nehmen und liefert konkrete Handlungsempfehlungen für alle Beteiligten einer Lebendorgantransplantation.

Publikationen

  • Sabine Wöhlke (2015). Geschenkte Organe? Ethische und kulturelle Herausforderungen bei der familiären Lebendnierenspende, Campus, 300 Seiten. 
  • Wöhlke, Sabine & Doyé, Lutz, (Hrsg.): Damit du weiterleben kannst: Die geschenkte Niere - Betroffene erzählen

Workshops

Workshop: "Frauen geben, Männer nehmen?" Genderaspekte in der Organtransplantation – empirische, theoretische und normative Fragen, Erlangen, Januar 2014

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